– Leseprobe –

Schicksal

Pünktlich um acht holt Sam Emma ab, und sie eröffnen den Abend mit einem Drei-Gänge-Menü in einem angesagten Restaurant. Er bringt sie dazu, ihm detailliert ihre Erlebnisse der letzten Wochen zu erzählen, und ist somit schnell wieder über ihr Leben informiert, obwohl sie sich, abgesehen vom Vortag, wochenlang nicht sahen. Nach dem Essen beschließen sie, einen Club zu besuchen, um den restlichen Abend mit guter Musik zu genießen. Beim Verlassen des Restaurants hält Sam Emma die Tür auf und öffnet ihr auch die Beifahrertür des Wagens.

»Du bist heute ein perfekter Gentleman«, stellt Emma fest und schnallt sich an.

»Bin ich das nicht immer?«, entgegnet Sam und startet den Motor.

»Patrick würde das sicher nicht von dir behaupten«, vermutet Emma mit ernstem Gesicht.

Sam schnaubt hörbar. Warum muss sie dieses Thema schon wieder anschneiden? Wenn es nach ihm ginge, müsste man darüber kein Wort mehr verlieren.

Vielleicht sollte er das Haveno und Jaro in Zukunft einfach meiden. Doch wenn er ehrlich zu sich ist, ist er nicht in der Lage dazu, sich von Jaro fernzuhalten. Es zieht ihn immer wieder zu ihm, seit er ihn vor drei Jahren auf einer Party kennenlernte.

»Patrick verbrachte die letzte Nacht bei Jaro und wird heute Abend wiederkommen. Ich werde daher zuhause schlafen«, erzählt Emma und unterbricht Sams Gedanken.

»Vielleicht raufen sie sich ja wieder zusammen«, sagt er, obwohl er nicht daran glaubt, und parkt den Wagen auf dem großen Parkplatz des Clubs.

Sam öffnet Emma erneut die Tür, bezahlt den Eintritt, und sein Benehmen ist so konform, wie Emma es von ihm erwartet. Gemeinsam betreten sie den Club, schlängeln sich durch die Menschenmenge, und Sam betrachtet Emmas eleganten Körper. Sie ist eine bildschöne, junge Frau, immer makellos gestylt und geschminkt und dank Personal Trainer in perfekter Körperform. Und als sie stehenbleibt, um jemanden vorbeizulassen, streicht er mit den Händen über ihre Hüften nach oben, bis er an den Fingerspitzen die Rundung ihrer Brüste spürt, und schmiegt sich an ihren Rücken. Ihr Duft kitzelt in seiner Nase und übertüncht für einige Augenblicke den Clubgeruch nach vielen Menschen, Alkohol und Kunstnebel. Sein Körper reagiert mit einem angenehmen Kribbeln, und als sie weitergeht, lässt er seine Hände zu ihrem Po wandern. Sie dreht sich zu ihm um, und in ihren Augen tanzen Einverständnis und Freude. Er schlingt die Arme um sie und versucht erst gar nicht, seine Hände im Zaum zu halten. Er spürt ihre weiche Haut, gräbt die Finger unter ihr Shirt und neckt ihre Lippen mit seinen, und als Emma ihn näher zu sich zieht und ihm einen Kuss stielt, weicht er nicht zurück.

Erst als Emmas Lieblingslied aus den Lautsprecherboxen ertönt, lösen sie sich voneinander, und sie geht tanzen. Sam nutzt die Gelegenheit und dreht eine Runde durch den Club. Seine Gedanken wandern zum Termin am Morgen zurück, und er geht nochmal alle Szenen durch. Sein Herz klopfte wie wild. Er war schon lange nicht mehr so aufgeregt. Der Inhaber der Firma war mindestens zwanzig Jahre älter als er, und er hatte Angst, die ganze Sache in den Sand zu setzen. Dann hätten all die recht behalten, die ihn nur als Günstling seines Vaters sehen. Aber er bekam die Unterschrift, und darauf ist er stolz. Niemand kann ihm unterstellen, dass der Vertrag nur zustande kam, weil er ein von Weissenstein ist. Im Gegenteil. Man sah ihm trotz Make-up die Spuren der Schlägerei an, und wäre er nicht überzeugend gewesen, wäre diese Tatsache sicher deutlich ins Gewicht gefallen.

Mit einem breiten Grinsen schwingt sich Sam auf die hohe Lautsprecherbox neben der Tanzfläche, sieht sich nach Emma um und entdeckt sie mit einem Jungen tanzend, den er schon in verschiedenen Clubs sah. Er grinst ihr zu, und sie schickt ein Lächeln zu ihm herauf. Sam verknotet die Beine zu einem Schneidersitz und beobachtet sie beim Tanzen. Früher dachte er, eine Beziehung mit Emma wäre das Richtige für ihn, immerhin kennen sie sich schon fast ihr Leben lang, doch mehr als ein paar One-Night-Stands wurden nicht daraus. Für ihn ist es mittlerweile mehr als offensichtlich, dass sie nicht zueinander passen, da ihre Vorstellungen vom Leben zu unterschiedlich sind. Emma lebt ganz anders als er, obwohl sie derselben Gesellschaftsschicht angehören. Doch das ändert nichts daran, dass er ihre Perfektion für einige Stunden zu schätzen weiß.

Sam schüttelt kaum merklich den Kopf und unterbricht seine Gedanken. Anstatt nachzudenken, sollte er diesen Tag feiern. Schwungvoll springt er von der Box und geht zu der Bar, die sich oben auf der Galerie befindet, um sich ein Glas Wodka zu holen, mit dem er sich selbst zu seinem Erfolg gratulieren kann.

Mit dem vollen Glas in der Hand dreht Sam sich von der Bar weg und macht einen Schritt in Richtung Tanzfläche, als ihn ein anderer Gast unsanft anrempelt. Sein Wodka schwappt wie eine Flutwelle über seine Hand und über das Mädchen neben ihm. Genervt öffnet er den Mund, um den unachtsamen Mann anzumotzen, da ertönen die Worte, die ihm auf der Zunge liegen, direkt neben ihm, und sein Blick landet sofort auf dem Mädchen.

»Verdammt nochmal, Mann!«, schimpft sie lautstark. »Kannst du nicht aufpassen?«

Die Schimpftirade gilt ihm höchstpersönlich, und er möchte etwas entgegnen, doch alles, was er in diesem Augenblick wahrnimmt, sind grüne Augen, die ihn streitlustig anfunkeln. In seinem Gehirn sind weder Worte noch Bewegungen abrufbar.

»Schau mal, wie ich aussehe«, nörgelt sie weiter und erklärt ihm: »Es wäre das mindeste, mich jetzt als Entschädigung auf so was da einzuladen.« Sie zeigt auf sein fast leeres Glas, und Sam nickt wie eine Marionette, an deren Seilen sein Gegenüber zieht. Er trinkt sein Glas vollends aus, wendet sich wieder der Bar zu, bestellt nochmal zwei Getränke und stellt fest, dass er nun mit jemandem anstoßen kann, auch wenn das Mädchen nichts von seinem erfolgreichen Tag weiß. Während er darauf wartet, dass die Frau hinter der Theke ihm die Getränke ausschenkt, kommen die Gedanken langsam aber sicher wieder im Hier und Jetzt an. Er ist erstaunt über sich selbst, denn er kann sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal sprachlos war.

Sam überreicht ihr eines der Gläser und mustert sie von oben bis unten: Sie steckt in einer schwarzen Cargohose und einem engen, dunkelblauen T-Shirt. Ihre Haut ist hell und mit einigen Sommersprossen getupft, sie ist sehr schlank und zart. Ihre Haare sind rotbraun und fallen ihr in sanften Locken bis eine Handbreit unter die Schulterblätter.

»Lass dich bloß nicht nochmal anrempeln«, fordert sie und mustert ihn ebenfalls genau.

Sam lacht und fragt: »Du weißt also, dass ich völlig unschuldig an deiner Wodkadusche bin?« Erleichtert stellt er fest, dass mit ihm doch noch alles in Ordnung ist und er wieder sprechen kann.

Sie nickt und hebt ihr Glas. »Auf diesen betrunkenen Idioten, dem ich mein nasses Shirt zu verdanken habe.«

Sam stößt mit ihr an, trinkt sein Glas wie immer in einem Zug aus und stellt es wieder auf der Theke ab. Sein Blick streicht erneut über ihr Gesicht, über ihre Schultern, bleibt kurz an ihrem nassen Shirt hängen und springt zurück zu ihren Lippen und ihren Augen, als er ihre Stimme hört.

»Das fühlt sich schrecklich an«, erklärt sie und streicht sich über den flachen Bauch. Sie zieht den Stoff von ihrer Haut weg und fordert ihn auf, diesen zu befühlen. Ihr Blick ruht ruhig in seinem, und Sam streckt die Hand aus, um das T-Shirt zu berühren. Es ist warm, aber patschnass. Wahrscheinlich würde der Wodka wie ein Bach herausfließen, würde man das Shirt auswringen. Seine Fingerrücken streifen die heiße Haut an ihrem Bauch, und er zieht die Hand schnell zurück.

»Du redest wohl nicht viel, was?« Ihre grünen Augen fixieren ihn.

»Falsch. Ich kann meine Klappe meistens nicht halten«, erwidert Sam wahrheitsgemäß.

»Sieht deshalb dein Gesicht aus, als wärst du gegen eine Wand gelaufen?«

»Du redest definitiv gerne«, stellt Sam fest und entgeht somit einer Antwort.

»Das hast du gut erkannt.« Sie lacht, und Sam betrachtet ihr Gesicht. Die Lippen sind voll und sinnlich, und er würde sie gerne küssen, um herauszufinden, wie sie schmecken.

»Tut das weh?« Sie streicht vorsichtig über seine Nase und seine Wange und sieht ihm direkt in die Augen. »Erzählst du mir, was passiert ist?«

Sams Gedanken landen abrupt wieder in der Realität, in der man fremde Mädchen nicht einfach küsst und in der Patrick ihn zwei Abende zuvor verprügelte, und er sagt ausweichend: »Du behauptest, ich würde nicht gerne reden, was erwartest du von mir?«

Für einen kleinen Augenblick verengen sich ihre Augen, doch sie hat sich schnell wieder im Griff, als wäre seine Botschaft, dieses Thema zu meiden, völlig alltäglich.

»Ich bin übrigens Lilli«, stellt sie sich vor und streckt ihm die Hand hin.

»Sam«, erwidert er und ergreift ihre Hand.

»Muss ich mit einer Freundin rechnen, die ihr Revier verteidigt?« Lilli sieht Sam fragend an.

Er schüttelt den Kopf und lässt nur widerwillig ihre Hand los. Ihre Berührungen in seinem Gesicht hinterließen Spuren, die wie Feuer auf der Haut glühen und ihre Wärme überall verteilen. Er spürt das Lächeln, das sich in seine Mundwinkel schleicht, und das Kribbeln, in das sich die Wärme verwandelt. Es prickelt durch den Magen, schlingt sich sanft um die Lunge, kitzelt im Hals, und er betrachtet Lilli genau, um diesen Moment für immer festzuhalten. Damit sie sich jetzt nicht umdreht und weggeht, deutet er auf zwei Stühle am Rand der Galerie und fragt, ob sie sich setzen sollen. Lilli nickt mit einem bezaubernden Lächeln und lässt sich trotz ihrer elfengleichen Erscheinung recht undamenhaft auf einen der Stühle fallen. Er setzt sich neben sie und beobachtet fasziniert, wie sie sich zurücklehnt und die Füße auf dem Geländer ablegt. Ihr Blick begegnet seinem, und sie fragt, mit wem er an diesem Abend unterwegs ist. Er überlegt, wie hoch die Chancen sind, dass Lilli ihn vorhin sah, als er Emma küsste, doch da es schlicht die Wahrheit ist, antwortet er mit einem lapidaren: »Mit einer Bekannten.« Ein verschmitztes Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit, und er fügt hinzu: »Mädchen gibt es doch nur im Rudel, wie kommt es, dass du allein unterwegs bist?«

»Du täuschst dich«, erwidert sie, und es schleicht sich ebenfalls ein Grinsen auf ihre Lippen. »Ich bin nicht mit Freundinnen hier, sondern mit meinen Brüdern und deren Kumpels. Die bemerken vermutlich nichtmal, dass ich nicht mehr bei ihnen bin.«

»Dann hoffe ich, dass sie dich noch eine ganze Weile nicht vermissen«, sagt Sam wahrheitsgemäß, und das Grinsen in seinem Gesicht fühlt sich langsam aber sicher idiotisch an, doch er kann nichts dagegen tun.

Sie lacht und erwidert: »Sei vorsichtig mit deinen Hoffnungen, nachher wirst du dir wünschen, dass jemand kommt, und dich von mir erlöst.«

Davon ist Sam allerdings ganz und gar nicht überzeugt, und als später ein junger Mann auftaucht, der Lilli Bescheid gibt, dass sie nach Hause fahren, sieht er auf ihrem Gesicht dieselbe Enttäuschung, die er in sich spürt.

Lilli seufzt und sagt entschuldigend: »Du hörst es, ich muss gehen. Ich habe morgen Schule.«

Sam nickt schweigend. Er sollte sich auch auf den Nachhauseweg machen. Gähnend erhebt er sich wie Lilli vom Stuhl. Einen Augenblick lang stehen sie sich gegenüber, dann berühren Lillis Lippen sanft seine Wange zu einem Kuss, und sie folgt dem Kumpel ihres Bruders die Treppe nach unten. Sam sieht ihr nach, verfolgt ihren Weg mit seinem Blick, bis er sie in den vielen Menschen aus den Augen verliert. Das Kribbeln in ihm dreht eine letzte Runde und lässt sich dann in der Magengegend nieder, und das Lächeln sitzt triumphierend in den Mundwinkeln und weicht nicht. Seine Fingerspitzen befühlen die Stelle, die Lilli küsste und von der aus ein Prickeln durch seinen Körper schwappt, obwohl die Berührung ihrer Lippen sanfter war als die einer Feder.